Fairytale gone bad- (Kurz)geschichte


Sobald die Schulglocke schrill läutet, schmeißen alle ihre Hefte und Stifte in die Ranzen. Das
" Hausaufgabe, Seite 90 Nummer 3!" unserer Mathelehrerin geht in einem unglaublichen Geschrei unter. Klar. Einmehlen. Jason, Klassensprecher, wird heute 16. Seit Wochen haben wir alles geplant, Mehltüten besorgt, einen Platz ausgesucht, wo wir ihn ungestraft einmehlen, und einen Plan entwickelt, wie wir Jason dorthin locken können. Für letzteres hat sich meine zweitbeste Freundin, Betty, "geopfert". Jason ist seit etwa einer halben Ewigkeit in sie verknallt und deshalb eignet sich Betty ausgezeichnet als Lockvogel. "Ihre" Facebooknachricht, das sie dringend mit Jason reden müsse, war ziemlich effektiv gewesen. Ohne zu zögern hatte er zugestimmt, sich heute, direkt nach der Schule, mit ihr am alten Deich zu treffen.
" Kommst du?" Lina, meine beste Freundin, stößt mich an. Ihre Augen funkeln durch die roten Kontaktlinsen hindurch.
" Jaja..." so langsam wie nur irgend möglich packe ich meine Sachen in den olivgrünen Leinenrucksack, diese, die Punks besitzen. Dabei fällt der Anti- Nazi- Button ab. Verdammt, das Teil wollte ich schon seit Wochen reparieren, beim letzten Festival hatte sich die Sicherheitsnadel verbogen.
" Och Mensch, jetzt komm! Dafür ist später noch Zeit, pack das Dingen doch einfach in eine deiner 10 000 Taschen! Ich will das einmehlen nicht verpassen!", jammert Lina. Auch gut. Seufzend schiebe ich den Button in die vordere Tasche des Rucksacks und schlüpfe in meinen Bundeswehrparka.
" Wir können!"
Meine Freundin sieht sich im leeren Klassezimmer um, " Super!" und dreht sich mit einem genervten Schnauben zur Tür.  
~

Das Gejohle und Geschreie der Anderen hallt uns schon von weitem entgegen.  Jason sieht bereits aus wie ein lebendig gewordener Schneemann, was Lina nicht davon abhält, ihre rabenschwarzen, megalangen Haare zurückzuwerfen und sich mit ihrer Mehltüte auf ihn zu stürzen. Die Proteste unseres Klassensprechers werden im Keim, oder besser, im Mehl erstickt. 
Ich stehe einfach nur abseits und beobachte die Silhouetten, die sich beinahe anmutig durch den Mehlstaub bewegen. Die Sonne bringt die ganze Szenerie zum Schimmern und glänzen, ein blutroter Ball, der langsam zwischen den Häuserdächern der Altstadt versinkt und seine Strahlen wie tastende Arme über das Pflaster schickt.
"Das ist doch albern..." Ich zucke zusammen. Neben mir steht Clemens, der Typ mit den Dreads, dem Motorrad, dem Vin-Diesel Style und den mitternachtsblauen Augen. "Ich meine“, redet er weiter, "dieses ganze Mehl... die ganzen armen Menschen. Wieso gehen wir damit so um? Das ist Verschwendung. Wir könnten das Zeug genauso gut in Keksen verarbeiten, die wir verkaufen und den Erlös an arme Menschen spenden. Aber nein..." Genervt lässt er die Hände sinken. Die Sonne spiegelt sich in dem Schwarz seiner Haare.
"Stimmt..." Er ist der Außenseiter in der Klasse. Ist er wirklich. Man bemerkt ihn kaum, im Unterricht ignorieren ihn alle, was vielleicht auch daran liegen mag, dass er Klassenbester ist und in den Pausen irgendwo im Gebüsch oder auf der Schulmauer sitzt und raucht.
" Aber die Kohle, die du jeden Monat für deine Kippen ausgibst..."
" Hast ja recht..." Er grinst. "Aber das ist was anderes... ich meine, ich hab ehrlich versucht, grünen Tee zu rauchen..." Jetzt bin ich mir tatsächlich nicht sicher, ob er es ernst meint, oder nicht. Zuzutrauen wäre es ihm jedenfalls, also, wenn man sein Grinsen im Moment bedenkt.
Clemens sieht mir in die Augen. Dieses Mitternachtsblau...  in ihm spiegelt sich alles und mehr. Ein leichter Geruch von Marihuana hüllt uns ein. Ist der schon die ganze Zeit da, oder... bilde ich mir den nur ein? Oder liegt es daran, dass er mir näher gekommen ist... ganz nah. Sodass ich nicht nur den Geruch des Stoffes, sondern auch Lavendel, irgendeinen Playboykrams und... hm... man kann es nicht beschreiben. Eigengeruch? Eigenduft passt wohl besser...aus einem lächerlichen Instinkt sauge ich seinen Geruch ein. Clemens hebt eine Braue.
" Du... du riechst gut..."
" Danke, das Kompliment..."er legt seine Stirn an meinen Hals, muss sich dazu ziemlich runterbeugen. "Kann ich nur zurückgeben." Sanft streicht er über meine Haut. Elektrisch. Alles. Zwischen uns. Seine Dreads kratzen ein wenig. Wow…
„ Clemens?“
„ Ja?“ Statt einer Antwort mache ich mich los. Das ist nicht normal. Das ist unheimlich. Auch, wenn wir 16 und dumm sind.
„ Sorry“, grinst mein Gegenüber frech. Ich habe das Gefühl, dass es ihm so überhaupt gar nicht Leid tut.
„Jaja, laber nur…“, knurre ich. Clemens lacht nur.
„ Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kann dich nicht ernst nehmen…“ Irgendwer kreischt hinter uns. Irritiert drehe ich mich um. Jason rächt sich.  Linas Haare haben einen Grauton angenommen, bei jeder Bewegung meiner Freundin fliegt eine Staubwolke auf. Sie dreht Pirouetten, wie sie es vom Ballett gelernt hat und lacht laut. Die Hälfte der Jungs starrt sie an. Kein Wunder, sie ist wunderschön. Groß, dünn, Schneewittchen.
„ Sie ist schon scharf…“, bemerkt Clemens.
„ Ich weiß.“ Dumm. Bekloppt. Kindisch. Dass ich jetzt neidisch bin. Neidisch auf meine beste Freundin. Pah.
„ Aber nicht so scharf wie-“
„Halt die Fresse.“ Ich warte gar keine Antwort ab, sondern drehe mich um und gehe. Soll er mich in Ruhe lassen. Der ganze Bullshit. Und Clemens. Meine Springer knallen auf den Beton, mit jedem Schritt werde ich ein klein bisschen schneller, bis ich schließlich renne. Durch die Straßen, immer weiter und weiter. Ich kann fliegen… bis ich stolpere und unsanft auf dem Boden lande. Meine Hüfte brennt und mein Knöchel tut weh, aber ich bleibe trotzdem liegen, das Pflaster ist noch warm. Es ist schön. Ich will nicht nach Hause, noch nicht… aber ich muss wohl oder übel. Meine Mutter macht sich sonst Sorgen oder whatever. Also rappele ich mich hoch und gehe langsam weiter. Meine Hüfte brennt wirklich. Ihh… das wird wohl Mama angucken müssen, ich kann kein Blut sehen.

                                                                           ~

„Mum? Ich bin wieder da!“, brülle ich durch unsere Doppelhaushälfte.
„Schön…“ Mamas Stimme klingt leer. „In der Küche müssten noch Vanilleplätzchen sein…“
„ Ist alles okay?“ Besorgt betrete ich die unterste Treppenstufe, die unter meinem Gewicht sofort knarrt.
„ Jaja…“ Trotzdem gehe ich langsam nach oben, wo sich nur Mamas Schlafzimmer, ihr Bad und ein Nähzimmer befinden, um zu kontrollieren, ob wirklich alles in Ordnung ist. Das Geländer ist voller herausragender Holzsplitter, in denen ich hängen bleibe, als ich mit der Hand beim Gehen darüber streiche. Fluchend fummele ich sie unter meiner Haut hervor, weshalb ich fast über Nelly, unseren alten Kater stolpere.
„ Verpiss dich, du Mistvieh!“, zische ich genervt. Ich mag ihn. Wirklich. Nur leider liegt er zu oft im Weg herum.
„ Rede nicht so mit dem Kater, er hat dir nichts getan…“ Nicht einmal streng kann sie sein. Durch die Glastür erkenne ich ihre Silhouette, sie sitzt anscheinend in ihrem Lieblingssessel, strickt und… trinkt. Wein oder so, das „harte Zeug“ rührt sie, seid Dad uns verlassen hat, nicht mehr an. Zögerlich klopfe ich an das Glas.
„ Mum, kann ich reinkommen?“ Sie antwortet nicht. „Mum?“ Manchmal geht mir ihre Angewohnheit, nicht zu antworten, wenn sie dazu keine Lust hat, tierisch auf die Nerven.
Also beschließe ich, ebenso wenig Rücksicht zu nehmen, wie sie es tut, und reiße die Tür auf. Eine unfassbare Marihuanawolke schlägt mir entgegen. Wieso konnte ich das nicht schon auf dem Flur riechen? Ach so- das Schlüsselloch ist zugeklebt.
„ Mum… du kiffst?!“ Fassungslos drehe ich mich um mich selber. Die Fenster zu, einige Vorhänge ebenfalls, unordentliches Bett, auf dem Karla, Mamas beste Freundin, pennt, leise Reggae im Hintergrund, ein inzwischen schon übervoller Aschenbecher und jede Menge Weinflaschen. „Hat Dad angerufen, oder was ist los?!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, reiße ich sämtliche Vorhänge zurück und Fenster auf, nehme die Aschenbecher und kippe den Shit aus dem Fenster. Danach rupfe ich das Klebeband vom Schlüsselloch, mache die Anlage aus und nehme die teils noch halbvollen Weinflaschen an mich. „Nur zu deiner Information, ich kippe das Zeug jetzt weg. Scheiß auf das Geld, das du dafür bezahlt hast, es reicht. Wirklich. Du kannst hier nicht den ganzen Tag mit Drogen, Alk, Reggae und Frauengesprächen verschwenden und dafür nachts durcharbeiten. Das macht dich kaputt und weißt du was, mich macht es auch kaputt! Ich hab keinen Bock mehr, die Mutterrolle zu übernehmen, obwohl ich eigentlich das Kind bin, verdammt! Es reicht, es reicht!“ Wütend halte ich inne und überlege, ob ich die Flaschen aus dem Fenster oder unten in den Müll schmeißen soll… hm, ich denke, die sicherere Methode ist das Fenster, weil die Flaschen dann hundertprozentig kaputt sind. „Hier, dein toller Wein!“ Gehässig lächele ich sie an, während ich Flasche für Flasche auf den Bürgersteig fallen lasse. Das Klirren löst in mir ein unglaubliches Gefühl der Zufriedenheit aus. „Weg ist er, weg…!“ Die letzte Flasche zerspringt auf dem Pflaster in unzählige kleine Scherben. Meine Mutter starrt mich teilnahmslos an.
„ Ich glaube, die Kekse stehen auf der Anrichte.“, sagt sie.    

                                                                           ~

Mein Handy surrt. Mit dem letzten Vanillekeks in der Hand halte ich inne und betrachte das Gerät wie ein wildes Tier dessen nächste Handlung ich nicht einschätzen kann. Wer zur Hölle ruft mich an? Mich? Ich bin mittelgroß, nicht wirklich schlank, neige zu komischem Essverhalten und SV und außerdem habe ich nicht einmal ein sonderlich hübsches Gesicht. Einige der vielen Gründe, warum ich kaum Freunde habe, der Hauptgrund allerdings… mein Benehmen. Ich randaliere oder mobbe oder diskriminiere nicht, ich bin einfach eine Mischung aus Goth und Punk, beides ungern gesehene Stilrichtungen an unserer Schule. Und in unserem Viertel. Und sowieso in der ganzen Stadt, die von statusorientiertem Denken und sozialer Ungerechtigkeit sowie allgemeiner Oberflächlichkeit nur so stinkt. Deswegen habe ich eben den Stempel „Vorsicht- nicht anfassen. Gesellschaftsschädlich!“ auf der Stirn, den nur wenige Menschen ignorieren, wie zum Beispiel Lina oder Betty. Oder Mum. Oder die komische Person, die gerade anruft. Auf dem zerkratzten Display ist nämlich weder „Mum“, noch „Lina“, noch „Betty“ oder gar „Dad“ zu  lesen. Auch, wenn ich von der letzten Person seit Jahren keinen Anruf mehr bekommen habe. Aber egal. Ein Seufzen unterdrückend drücke ich auf den grünen Hörer.
„ Hallo?“
„ Hi, hier ist Clemens. Ich hab deine Nummer von Betty und bevor du jetzt sie oder mich mit einem russischem Fluch oder so belegst, hör mir einfach zu.“
„Okay?“ Ich bin überrumpelt, nicht gut. Darf ich nicht zeigen.
„ Ich wollte fragen ob du… vielleicht Lust hast, eben vor deine Haustür zu kommen?“
„ Was?!“
„ Komm raus.“ Beep. Aufgelegt. Langsam stehe ich auf, bewege mich zur Haustür. Öffne sie. Und bekomme einen Mordschreck. Clemens füllt den gesamten Türrahmen aus und seine Dreads schimmern wie Seide. Hinter ihm steht seine Maschine.
„ Hey Rebellin. Lust auf ne Spritztour?“

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